Hebbel am Ufer / HAU 1, Juni 2015
Im Rahmen des Festivals „The Power of Powerlessness“
Für “Inventar der Ohnmacht” kommen im HAU Hebbel am Ufer Dutzende Teilnehmer unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft aus Berlin zusammen, um ihre Erfahrungen von Machtlosigkeit und ihr Wissen darüber zu bündeln. Die verschiedenen individuellen und oft sehr persönlichen Erlebnisse werden in einer kollektiven Situation mit dem Publikum geteilt und erkundet. Die daraus entstehenden Diskussionen und Impulse hinterfragen die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen, die unser Leben bestimmen.
For „Inventory of Powerlessness“ dozens of participants of different ages and backgrounds from Berlin come together to pool their experiences of powerlessness and their knowledge of it. The various individual and often very personal experiences are shared and explored in a collective situation with the audience. The resulting discussions and impulses question the social, political and economic structures that shape our lives.
Konzept: Edit Kaldor
Realisation: Franziska Seeberg, Arved Schultze, Christiane Kühl, Nenad Čupić
Mit: Annekathrin Bach, Lisa Benjes, Sonia Dimitrow, Richard Djif, Ingo Gentes, Fränk Heller, Heide Höppner, Solène Jimenez, Verena Kammerer, Silja Korn, Pauline Krekeler, Peggy Luck, Catharina Mäge, Mathilde, Oleg Myrzak, Yukiko Nagakura, Alexander Nagel, Katharina Rösch, Peguy Rodrigije, Rita Stelling, Abdi Toufali, Elsa Triquet, Udo Wiegand und Alper Yildiz
(…) Die Realisierung vor Ort besorgen Franziska Seeberg, Arved Schutze und andere. Dutzende Teilnehmer kommen zusammen, um über ihre persönlichen Erlebnisse zu berichten. Nicht als Therapieangebot. Sondern, um Wissen zu bündeln und mehr zu lernen über die Strukturen der Machtlosigkeit. Statt die Erzählungen nach Schubladen zu sortieren – hier Familienangelegenheiten, dort Diskriminierung – gehe es darum, Verbindungen herzustellen zwischen den individuellen Erfahrungen. Klar steht hinter diesem „Inventar der Ohnmacht“ ein politischer Gedanke. Zum einen wollen die Künstler den „arroganten Blick“ brechen auf die vermeintlich Hilflosen, die es zu bedauern gelte. Zum anderen sehen sie zunehmend die sozialen Netze reißen, die gesellschaftlichen Gräben sich vergrößern. Die Idee, dass jeder Gewinner sein könne, werde dominanter.
(Tagesspiegel, 9.6.2015)
Die Versuchsanordnung des interaktiven Projekts: Eingeladene Personen oder Leute aus dem Publikum berichten von ihren eigenen Ohnmachtserfahrungen. Diese werden gesammelt, mitgeschrieben und in Schlagworten oder Kurzbeschreibungen an die Wand projiziert (“im Stasi-Knast sitzen“, „eine Fehlgeburt haben“, „in einer Psychose gefangen sein“). Man kann die Berichte miteinander verknüpfen lassen oder Hashtags wie bei Twitter setzen. Bei den Performances entstand so eine Art Sternbild der Ohnmachtserfahrungen.
Zuschauer berichten von Trennungen, von abgelehnten Asylanträgen, von Ängsten, Krankheiten, Missbrauchserfahrungen. Diverse Erfahrungen der Machtlosigkeit standen so nebeneinander. Dieses hierarchiefreie Nebeneinander der Oral History – oder Oral Present – stellte sicher auch ein Problem der Abende dar: Manchmal hätte man gern viel mehr über die Geschichten gewusst als eine verkürzte Darstellung in zwei, drei Minuten. Hier aber konnte man Foucaults weite Lesart von Macht durchaus zugrunde legen – Macht wäre demnach nicht per se schlecht, Macht und Ohnmacht fluktuierende Phänomene in einem Feld, das immer neu geschrieben wird.
(taz, 9.6.2015)